Raphael

"Zu Anbeginn der Welt war die Göttin alleine.
Aus Ihr wurde das Gewünschte geboren
Und alles, was aus Energie besteht.
Aus Ihr auch alle Wesen hatten sie nun als Ursprung.
Das Ei, das Wasser, der Samen, die Gebärmutter:
Aus Ihr gingen die Pflanzen, die Tiere,
Und auch die Menschen hervor.
Sie ist die höchste Energie."
Bahvricha Upanischad






Die Schöpfung und die große Mutter



Die Heiligen Indiens gehörten schon vor Jahrtausenden zu den Trägern der gesitigen Evolution der Menschheit. In ihren Meditationen entdeckten sie, daß Gott am Anfang der Schöpfung "Eins" war: weder männlich noch weiblich, allmächtig, attributslos und unbenennbar. Er war Parabrahman, der undifferenzierte Brahman, die ursprüngliche Einheit. Die Tradition des Shinto in Japan gab ihm den Namen "Ame-no-minaka-nushi": der ursprüngliche Gott, wesenhaft und transzendent zugleich. Das in seiner jetzigen Form noch nicht existierende Universum war reduziert auf eine Leere, auf ein kosmisches Vakuum. Dieser Ruhezustand, der "Schlaf des Brahman", entspricht aus der Sicht des Astrophysikers dem Zustand des Universums, der dem Urknall vorausging.

Dann, so sagen uns die indischen Schriften, teilte Gott sich in zwei Pole, in einen weiblichen, die
Adi Skakti, und in einen männlichen, Sadha Shiva. Im Sanskrit bezeichnet Adi Shakti die Ur-energie, die allmächtige Kraft Gottes. Die Adi Shakti ist die Große Göttin, die Mutter des Universums. Sie personifiziert den Wunsch Gottes. Sadha Shiva hingegen ist das Urwesen, ewiger Geist oder Spirit, Gottvater, die höchste Form allen Lebens. Sein Symbol ist der Shiva-Lingam, archetypisches Zeichen für die ursprüngliche Einheit. Im philosophischen System des Sankhya werden diese beiden Pole der Schöpfung als Purusha und Prakriti bezeichnet. In allen Schöpfungsmythen dieser Erde findet man Entsprechungen für Purusha und Prakriti: Isis und Osiris in Ägypten, Enlil und Ishtar in Babylonien, Dagda und Danu bei den Kelten, Pangu und Nüwa in China, Izanagi und Izanami in Japan oder Ometecuhtli und Omecihualt bei den Azteken Mexikos.

Der ersten Differenzierung Gottes folgte die Trennung der Adi Shakti von Sadha Shiva. Diese Trennung entsprang aus dem Wunsch Gottes für die Schöpfung, brachte den Prozeß der Erschaffung der Welt in Gang und entspricht dem Urknall. Der Laut, der aus dieser Trennung entstand, ist der Urlaut des Universums, das AUM der hinduistischen Tradition, das man als AMEN in der jüdisch-christlichen Tradition wiederfindet:
"Am Anfang war das Wort."

Aus der
Adi Shakti, dem weiblichen Aspekt Gottes, entspringt die gesamte geschaffene Welt, von den Galaxien bis zu den kleinsten Elementarteilchen. Lao-Tse sagte: "Die Welt hat einen Anfang, das ist die Mutter der Welt." Die modernen wissenschaftlichen Theorien beschreiben Energie als Quelle jeglicher Existenz, dynamisch und statisch zugleich, was durch die Einsteinsche Gleichung E = mc2 ausgedrückt wird. Die ältesten Schöpfungsmythen, die Werke der großen Visionäre des Ostens, entsprechen somit in wesentlichen Teilen den modernsten Theorien der abendländischen Wissenschaft.

Sadhashiva, der ewige Geist oder Spirit, nimmt - als männlicher Aspekt Gottes – seinen Platz als stiller Zeuge des universellen Schöpfungsdramas ein. So wie die Sonne untrennbar mit dem Sonnenlicht verbunden ist, kann man sich auch die Einheit zwischen Sadashiva, dem Spirit, und seiner Adi Shakti, der schöpferischen Kraft, vorstellen. Die Sonne selbst agiert nicht; es ist das Licht, in der Form von Energie, welches das Leben auf unserem Planeten weckt und nährt. Die mittelalterliche Mystikerin Hildegard von Bingen stellte genau dieses Verhältnis des männlichen und weiblichen Aspekt Gottes in Bezug auf die Schöpfung in ihrem bekannten Mandala-Bild Der Mensch im Kosmos auf bemerkenswerte Weise dar: Der Mensch steht mit ausgestreckten Armen und gespreizten Beinen inmitten des Universums, berührt beinahe dessen Ränder, und die gesamte Schöpfung ist genau auf ihn maßgeschneidert. Umfangen wird der Weltenkreis von einer eindeutig als weiblich zu identifizierenden Person, und Gottvater umfängt diese weibliche Person, ist aber außerhalb der Welt und kann auf die Welt nur durch Sie einwirken. Hildegard selbst bezeichnete Sie als die "Caritas, die Liebe Gottes", welche spricht: "Ich, das feurige Leben der Gottwesenheit, flamme dahin über die Schönheit der Felder. Ich leuchte in den Wassern. Ich brenne in der Sonne, im Mond und in den Sternen. In jeglichem Geschöpf bin ich die verborgene Kraft."

Geist und Energie sind die beiden Bestandteile, die alles Leben erhalten, da sie untrennbar mit dem Leben verbunden sind. Die Urenergie ist die Quelle des Lebens. Sie läßt den Samen keimen, verwandelt die Blüte in die Frucht, entwickelt den Embryo zu einem harmonischen Wesen. Sie bildet das einzige Gesetz der Natur, da sie die innersten Vorgänge verursacht, welche die Grundlage des Lebens bilden. Diese die göttliche Dimension des Lebens berührenden Vorgänge, konnten von der Wissenschaft der Neuzeit nur teilweise und unbefriedigend entschlüsselt werden. Denn solange der Mensch nicht seine sein ureigenes Wesen, welches göttlichen Ursprungs ist, erkannt hat, sind alle diese Vorgänge für ihn nicht wirklich erfaßbar. Der göttliche Geist und die Energie sind in jeder Lebensform enthalten, vom einfachsten bis zum höchstentwickelten Element der Schöpfung: dem Menschen.


Deutsche Übersetzung nach: Gwenael Verez, The Search for the Divine Mother, 1997